Nachlese: Auftakt der 75. Landwirtschaftlichen Woche Nordhessen stand im Zeichen des Klimawandels
Am Montag wurde in Baunatal die 75. Landwirtschaftliche Woche Nordhessen eröffnet. Ein gut gefüllter Saal und eine angeregte Atmosphäre zeigten: das Interesse, endlich wieder in Präsenz an diesem etablierten Format in Baunatal teilnehmen zu können, war groß.
In seinem Grußwort stellte der Präsident des Hessischen Bauernverbands, Karsten Schmal, die Bedeutung der Landwirtschaftlichen Woche Nordhessen als DIE Plattform für den Austausch zwischen Landwirtinnen und Landwirten, Interessenverbänden, Behördenvertretungen, Politik und Wissenschaft in Hessen heraus. Die Veranstaltung biete die Möglichkeit, über den Tellerrand hinauszuschauen, gesellschaftliche und auch politische Themen zu diskutieren und sich fortzubilden.
Lebensmittelproduktion vor Ort gewinnt wieder an Bedeutung
Schmal ging nicht nur auf die aktuellen Herausforderungen für die Landwirtschaft, wie den Klimawandel, die kriegsbedingte Inflation, den Artenschwund und die Verschärfungen beim Pflanzenschutzmitteleinsatz ein, sondern betonte ebenso, dass die Landwirtschaft, insbesondere mit Blick auf Klimawandel, Nachhaltigkeit und Biodiversität, auch ein Teil der Lösung sei. Gleichzeitig müssten die immateriellen, gesamtgesellschaftlichen Leistungen besser entlohnt werden.
Immer höhere Anforderungen und Regulierungen würden zu einer Abwanderung der Lebensmittelerzeugung und zu Abhängigkeiten führen. Dabei zeige die aktuelle weltpolitische Situation, wie wichtig eine lokale Produktion vor Ort sei, insbesondere für die Ernährungssicherung. Statt einer Politik der Verbote setzt Schmal auf Freiwilligkeit.
Für die Tierhaltung forderte er verlässliche Rahmenbedingungen und Zukunftsperspektiven. Der Umbau der Tierhaltung sei nicht ausreichend finanziert. Zudem stünden Betriebe, die erst kürzlich in Tierwohlmaßnahmen investiert hätten, nun neuen, nur schwer miteinander zu vereinbarenden Auflagen im Klimaschutz gegenüber.
Im Bereich des Naturschutzes rief er die Akteure auf, im Gespräch zu bleiben und sich an Vereinbarungen zu halten. Mit Blick auf die bevorstehenden Landtagswahlen im Herbst stellte er die Forderungen des HBV vor.
In ihrem Grußwort knüpfte die „Hausherrin“ Manuela Strube, Bürgermeisterin von Baunatal, an Schmals Ausführungen an und hob die Baunataler Initiative „Regional schmeckt besser“ zur Stärkung der Landwirtschaft vor Ort hervor. Neben der Einrichtung eines Wochenmarktes sei die Kita AckerRacker gegründet wurden. Hier lernten die Kinder, wie Lebensmittel auf dem Acker wachsen und wie sie sie selber verwerten können.
Klimawandel: Landwirte als Pfleger des Bodens besonders wichtig
Zum Thema „Wie gelingt uns der Schutz von Klima, Land und Ozean?“ referierte Prof. Dr. Antje Boetius, Leiterin des Alfred-Wegener-Institutes, Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung in Bremerhaven. In ihrem anschaulichen Vortrag brachte sie zusammen, was auf den ersten Blick nicht zusammenhängt.
Neben der klimawandelbedingten Erwärmung des Wassers und dem Artensterben in den Meeren, komme das Schmelzen der Eismassen, unserer Sonnenreflektoren an den Polen, hinzu. Nahrungsnetze brechen zusammen, der Jetstream wird verändert, was wiederum Einfluss auf das Wetter hat, z.B. in Form von stabilen Wetterlagen für Wochen, wie der vergangene Sommer zeigte. Das heißt, Hessen – die Landwirtschaft in Hessen – wird auch von den Veränderungen in den Meeren und an den Polen beeinflusst. Gleichzeitig trage jede Tonne CO2, die wir ausstoßen dazu bei, dass 3 m2 arktisches Eis unwiderruflich verschwinden. Das Gleichgewicht kippt, eine Rückkopplungsschleife entsteht.
Der Planet komme an seine Grenzen, weil ein Teil der Bevölkerung zu viel verbrauche. In kürzester Zeit, ab ca. 1950, sei der Mensch die stärkste geologische Kraft geworden. Doch die Veränderung gehe zu schnell, weder Mensch noch Natur können sich anpassen.
Der Boden sei – wie auch die Meere oder die Luft – globales Allgemeingut, das alle nutzen und alle schützen müssen. Den Landwirtinnen und Landwirten komme als Pflegerinnen und Pfleger des Bodens eine besondere Rolle zu. Die Landwirtschaft trage zwar auch zum Klimawandel bei und leide unmittelbar unter den Auswirkungen, gleichwohl könne der Boden mit der richtigen Bewirtschaftung viel CO2 binden.
Sie machte klar, dass alle Konventionen und Anstrengungen zum Klimaschutz bisher erfolglos waren. Anstatt auf (noch zu entwickelnde) Hightech-Lösungen zu setzen, die sicherlich auch ein Baustein sind, können laut Boetius schnellere Erfolge durch ein Neudenken der Welternährung und eine Neuaufteilung der Flächen erzielt werden. So müssten u.a. mehr Flächen in C-Senken (Wälder, Moore) umgewandelt und die Tierhaltung im Sinne der Kreislaufwirtschaft gestaltet werden.
Saatgut als Grundlage
Im Anschluss an den Festvortrag erfolgte die Auszeichnung von 13 hessischen Betrieben, die sich langjährig, teilweise über 100 Jahre, in der Saatgutvermehrung engagieren. Bevor Abteilungsleiterin Annette Enders vom Hessischen Landwirtschaftsministerium die Urkunden überreichte, hob Andreas Sandhäger, Direktor des Landesbetriebs Landwirtschaft Hessen (LLH), in seiner Ansprache die Bedeutung erstklassigen, regional produzierten Saatguts hervor.
Auf rund 3681 ha wurden 2022 in Hessen Getreide, Kartoffeln, Leguminosen oder auch Gräser vermehrt. Insgesamt zeige sich, dass die Vermehrungszahlen für Weizen bundesweit rückläufig sind, während ehemalige Nischenkulturen, wie Hafer, Dinkel und Körnerleguminosen stärker vermehrt werden. Sandhäger wertete dies als eine Reaktion auf die veränderten gesellschaftlichen und politischen Anforderungen.
Bekenntnis zur hessischen Landwirtschaft
Mit seiner Teilnahme würdigte Ministerpräsident Boris Rhein das 75. Jubiläum.
Auch er ging in seiner Rede auf die aktuellen wirtschaftlichen und gesellschaftspolitischen Herausforderungen ein und versicherte, sich für verlässliche Rahmenbedingungen und eine zukunftsfähige Landwirtschaft in Hessen stark zu machen; über die Ebene des Bundesrates auch in Berlin. Die Politik sei sich der Bedeutung der Landwirtschaft als unser aller Lebensgrundlage bewusst. Er versicherte, dem HBV, den Forderungskatalog zur Landtagswahl „mit Interesse“ gelesen zu haben.
2022 sei ein Jahr der Krisen gewesen. Durch finanzielle Hilfspakete konnten Verluste abgepuffert werden, so auch über das 200-Millionen-Programm „Hessen steht zusammen“. Dennoch seien auf Dauer die Probleme nicht mit Geld allein zu lösen.
Rhein lobte die Zusammenarbeit mit dem HBV und möchte diese weiter stärken. Er dankte dem LLH, der sich als verlässlicher Partner in Beratung, Bildung und Fachinformation beweise, für seinen Beitrag im Netzwerk der 100 nachhaltigen Betriebe. Er honorierte den Einsatz der Landwirtinnen und Landwirte an 365 Tagen im Jahr. Den Konsumentinnen und Konsumenten gab er auf dem Weg, ihr Bild der Landwirtschaft neu zu denken. Landwirtschaft entspreche weder einer romantischen Bilderbuchwelt noch der Skandalbilder aus Reportagen.