Landesbetrieb Landwirtschaft Hessen

Marktfruchtbau

Getreide: Schlüsselfaktor Fallzahl

Die anhaltenden Niederschläge im Juli und August haben für Qualitätseinbußen bei Roggen und Weizen gesorgt. Vor allem die Fallzahl ist dabei ein entscheidendes Kriterium. Doch was zeichnet diese Kennzahl eigentlich aus? Und warum sind gute Fallzahlen so wichtig?

Ein Weizenkorn besteht zu gut 70 % aus Stärke. Diese Stärke verleiht dem Mehl beim Backen die Fähigkeit, Wasser zu binden. Durch die Enzyme Alpha- und Beta-Amylase kann die Stärke gespalten werden. Diese sind überwiegend im Keimling und in den Randschichten des Korns enthalten, wobei abgereifter Weizen das Enzym Beta-Amylase immer enthält. Zusätzlich wird zum Abbau der Stärke aber noch Alpha-Amylase gebraucht. Die entsteht, wenn das Korn keimt. Die Aktivierung dieser Enzyme läuft idealerweise erst während des Backvorgangs im Teig ab, beginnt aber häufig mehr oder weniger stark bereits im Korn »auf dem Halm«. Durch Wasseraufnahme und Quellung des Korns wird Gibberellinsäure in die Schicht unterhalb der Samenschale des Korns transportiert. Die Gibberellinsäure aktiviert die Alpha-Amylase, sodass der Keimungsprozess eingeleitet und Stärke zu Zucker gespalten wird. Letzterer dient der Ernährung des Keimlings. Schreitet die Keimung weiter fort, spricht man von Auswuchs.

Die Fallzahl ist das Maß für die Aktivität dieser stärkelösenden Enzyme und der Stärkebeschaffenheit. Zur Fallzahlprobe wird eine Wasser-Mehl-Mischung 60 Sekunden gerührt und im Wasserbad auf 100 ° C erhitzt. Dadurch bildet sich ein mehr oder weniger zäher Brei. Anschließend lässt man einen Rührstab durch diesen Brei fallen und misst die Zeit, die er braucht, um in der durch Verkleisterung und Enzymaktivität entstandenen Suspension nach unten zu fallen. Zusammen mit der Anrührzeit ergibt sich daraus die Fallzahl (Anrührzeit + Fallzeit = Fallzahl in Sekunden).
Der mit einem Messgerät ermittelte Wert kann zwischen 62 und 450 Sekunden schwanken. Zu niedrige Fallzahlen können die Backqualität erheblich beeinträchtigen. Besonders Teigdehnbarkeit sowie -stabilität und als Folge daraus das Backvolumen sinken ab. Für Brotweizen werden in der Regel 220 Sekunden gefordert. Schon bei geringer Alpha-Amylasetätigkeit sinkt die Fallzahl dramatisch. Bei direktem Auswuchs kommen zu den Qualitätsverlusten quantitative Verluste durch Veratmung, erhöhten Kornausfall und Ausschlagen des Keimlings beim Dreschen hinzu. Selbst wenn nur 3 % der Körner ausgewachsen sind, sinkt die Fallzahl unter 220 Sekunden ab.

Fallzahl und Auswuchsfestigkeit sind sehr komplexe Merkmale, die von einer Vielzahl an Faktoren beeinflusst werden. Dazu zählen unter anderem Alpha-Amylase-Aktivität, Beschaffenheit der Stärke, Umwelt und Witterung sowie Sorte. Die Stärkebeschaffenheit hat einen wesentlichen Einfluss auf die Fallzahlstabilität. Für eine gute und stabile Ausbildung der Stärkeverbindungen im Korn und eine geringe Alpha-Amylaseaktivität ist eine langsame, trockene Abreife mit hohen Temperaturen ideal. Eine abrupte Abreife oder Fusariumbefall kann die Ausbildung stabiler Stärkemoleküle behindern. Diese geschädigte Stärke kann im Folgenden schneller von den Enzymen abgebaut werden. Als ungünstig erwiesen hat sich auch eine länger anhaltende Regenphase in der Teig- bis Totreife des Getreides in Verbindung mit einer erhöhten Alpha-Amylaseaktivität. Letztere wird wiederum von der vorhergehenden Strahlungs- und Temperaturverhältnissen beeinflusst. Ebenfalls ungünstig auswirken können sich niedrige Temperaturen in dieser Phase, ein Temperaturschock oder im Anschluss eine verzögerte Ernte. Es ist möglich, dass damit die Keimruhe gebrochen wird. Die Freisetzung des Alpha-Amylase aktivierenden Phytohormons Gibberellin wird durch seinen direkten Gegenspieler Abscisinsäure (ABA) in der Freisetzung gehemmt. ABA ist ein Stresshormon, das die Pflanzen bei Trockenheit und Hitze vermehrt bilden und so die Keimung und Fallzahlabsenkung hemmen. Kühle Witterung nach der Blüte kann den Anstieg des ABAPegels verhindern und so die Keimruhe schwächen. Dies führt insbesondere bei Sorten mit geringer Fallzahl (BSA-Note < 7) oder Fallzahlstabilität zu raschen Qualitätsverlusten.

Deutliche Unterschiede gibt es zwischen den Sorten. Dies betrifft insbesondere die Ausprägung der Keimruhe (Dormanz), die der Keimung entgegenwirkt, Sie liegt etwa zwischen 20 und 60 Tagen. Auch die Stärkebeschaffenheit variiert hinsichtlich ihrer Stabilität, wobei Futterweizensorten tendenziell weichere Korntexturen und instabilere Stärke aufweisen. Auch der Gibberellinpegel ist sortenspezifisch. Indirekten Einfluss können Standfestigkeit und Fusariumresistenz, aber auch Ährendichte, -haltung, Spelzenschluss oder Begrannung hinsichtlich des Abtrocknungsverhaltens aufweisen. Die Dicke der Samenschale kann im Weiteren das Eindringen von Wasser beeinflussen.

Im Getreidelager ist im Allgemeinen eine leichte Anhebung der Fallzahl möglich. Besonders wenn die Abreife des Korns bei der Ernte noch nicht vollständig abgeschlossen war, sind bis zu 40 Sekunden Steigerung möglich. Auch ein scharfes Herausreinigen unreifer Körner und Kleinkörner kann eine Aufwertung bewirken. Gleichzeitig ist ein Mischen von Partien mit niedrigen und hohen Fallzahlen zum Aufwerten der fallzahlschwachen Charge auf über 220 Sekunden in der Regel sehr riskant. Bereits ein Zumischen eines Anteils von 10 % einer fallzahlschwachen zu einer -starken Partie senkt das Gesamtniveau überproportional ab.

Was ist mit Nachbau-Saatgut?

Auf die Keimfähigkeit von Nachbau-Saatgut haben niedrige Fallzahlen im Normalfall keinen Einfluss. Partien mit schwacher Keimfähigkeit weisen zwar häufig niedrige Fallzahlen auf. Ein umgedrehter Zusammenhang besteht aber nicht. Anders sieht es bei Auswuchs aus. Die Keimfähigkeit muss dabei nicht zwingend vermindert sein, der junge Keimling kann aber bei der Aufbereitung schnell abbrechen, was zum Ausfall des Korns führt. Auch eine Schädigung durch die Beize bei längerer Lagerung ist möglich, weshalb eine Beizung erst kurz vor der Saat anzuraten ist.

Dieser Beitrag erschien zuerst in den DLG Mitteilungen 09/2023.


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